Wir starten unsere WA-Sichtungen auf der DOK Leipzig mit dem ersten Hommage-Block an den Filmemacher Jon Bang Carlsen und besprechen die Filme It’s now or never und How to invent reality [Verlinkung akutalisiert am 13.11.2020]. Im ersten Film zeigt der dänische Regisseur Carlsen einen irischen Farmer bei der Brautschau. Wie der Filmemacher dabei gezielt die tradierten Grenzen des Dokumentarfilms überschreitet, reflektiert er offenherzig im zweiten Film dieses Blocks.
Ganz schwierig, was der Herr Carlsen da tut.
Ich persönlich finde den Ansatz (ohne ein Exemplar seiner Filme zu kennen) nach kurzem Durchdenken wenn überhaupt nur als Anstoß zur Diskussion um die Grenzen des Mediums tauglich.
Wie soll ich denn einen Dokumentarfilm schauen und mich dabei auf die Bilder verlassen, wenn die Hälfte inszeniert ist? Das hebelt in meinen Augen die Grundsätze des Formates aus. Natürlich steht immer die Frage im Raum, wie subjektiv gefärbt eine Doku durch die Ansichten des Filmemachers ist. Aber (nicht als solche gekennzeichente) artifizielle Elemente haben im Dokumentarfilm nichts zu suchen und sind Manipulation in Reinform. Vor allem, weil ich gar nicht weiß, was mir in dem Fall verkauft werden soll – bei extremst subjektiven Dokumentarfilmen, der Marke Michael Moore oder SUPERSIZE ME, erkenne ich ja ziemlich genau, dass mir der Filmemacher seine extreme Sicht der Dinge aufdrücken will (und beginne automatisch das Gesehene zu hinterfragen) – hier stelle ich mir das schwieriger vor.
Würde der Stoff als Spielfilm verkauft werden, sehe ich da sogar ganz gegenteilig zur vorherigen Meinung einen spannenden Ansatz (der irgendwie in Dogma-Richtung geht) drin. Ein Spiel mit der Realität sozusagen.
Gewagte Kiste, auf jeden Fall. Aber zumindest beim Double-Feature „It´s now or never“ und „How to invent Reality“ eine absolut sehenswerte und erhellende Herangehensweise.
Ansonsten bin ich bei jedem Film von Carlsen immer wieder aufs neue hin und her gerissen. Kunst darf alles, davon bin ich restlos überzeugt. Aber dennoch behalte ich dieses Gefühl vom Etikettenschwindel, dem fahrlässigen in die Irre führen. Deswegen würde es mich erleichtern und gar nicht wundern, wenn Carlsen eines Tages ein ganz neues Wort schöpft, das seine Filme zu fassen bekommt. Denn die Schubladen vom Spiel- und Dokumentarfilm sind ihm ganz offensichtlich zu eng.
Als Preisjury-Mitglied der diesjährigen DOK Leipzig und anlässlich seiner Hommage gab er den Jungspunden von den DOK SPOTTERS übrigens ein hörenswertes Interview:
p.s.: Vielen Dank fürs Flattrn!
Ja, inhaltlich darf sie alles – da stimme ich dir zu. Aber man muss sie dann trotzdem als das verkaufen, was sie ist! Der Ansatz hier erscheint mir, als würde ich Geld für das Ansehen eines Ölgemäldes bezahlen, in der Ausstellung aber nur eine Bild-förmige Skulptur finden und auf Nachfrage vom Künstler gesagt bekommen das sei doch ein Ölgemälde. Oder so 🙂 Ist nicht das drin was drauf steht, allerdings so versteckt, dass ich nicht einschätzen kann was ich da sehe.
Aber wie gesagt, als fiktives Konstrukt finde ich den Ansatz toll!
Hm, wenn ich so darüber nachdenke, dann liegt dein Problem weniger am Film an sich, als daran, dass er (von irgendjemandem) als Dokumentarfilm „abgestempelt“ wird, oder? Jetzt rattert es bei mir auch gerade wieder. Ich habe häufig bei Spielfilmen den Fall, dass sie von der Marketingabteilung in bestimmte Ecken geschoben werden (sollen), die ich total verfehlt finde. Durch das Entstehen einer Erwartung, bin ich immer schnell dabei, einem Film bestimmte Dinge (Handlungsaufbau, Verhalten von Figuren u. ä.) vorzuwerfen oder positiv zu empfinden. Deswegen versuche ich beispielsweise auch, mich immer wieder dazu zu bringen, einen Film möglichst vorbehaltlos zu sichten. Also Kritiken, Einordnungen etc. einigermaßen auszublenden. Das klappt zwar nie in Gänze, ist aber vielleicht auch ein Ansatz.
Die Frage ist halt, ob Carlsen seine Filme als Dokumentarfilme verkauft, oder ein „unabhängiges“ Marketing das tut. Behauptet er es selbst, empfinde ich das als klaren Etikettenschwindel und am Auftrag des Dokumentarfilms vorbei. Ich fühle mich getäuscht. Sobald er seinen Film als inzenierte Realität (oder dergleichen) labelt ist das okay. Es geht mir nur darum, dass Dokus einen Wahrheitsanspruch suggerieren, den er hier bewusst, aber ungekennzeichnet bricht. Somit wird es zum freien Kunstwerk. Wie gesagt: Objektivität ist in meinen Augen eh Illusion und in anderen Dokus kann ich kritisch hinterfragen welche Meinung, Einstellung, Ideologie mir der Filmemacher evtl. vermitteln will. Einfach dadurch, dass er eben genau die gezeigten Ausschnitte DER REALITÄT auswählt und entsprechend montiert. Dafür muss ich mir aber sicher sein, auch Realität zu sehen..